Aus dem Leben einer Krankenschwester
Simona Cavigelli/JiuRu
Die Stunde zeigt um 06.45 Uhr, als ich auf der Station eines Akutspitals ankam. Noch etwas müde vom Wochenende und die letzten Schlafreste aus meinen Augen schwirrend, lasse ich meinen Blick wie jeden Morgen vorsichtig über die Patiententabelle schweifen. Die Station scheint sich seit letztem Freitag ordentlich gefüllt zu haben. Fünf Namen finde ich, neben denen mein Name steht. Fünf Namen, für die ich heute zusammen mit den Ärzten und anderen Personen aus dem interdisziplinären Team die Verantwortung trage. FÜNF NAMEN.
Notorische Namen, vielleicht jemand, der den gleichen Namen trägt wie ich, ein Bekannter? Namen, die ich noch nie gehört habe. Namen, die zu Artikulationsschwierigkeiten führen, und Namen, die darauf hindeuten, dass Kommunikation wahrscheinlich eher über die Sprache des Hirsches erfolgen wird. Kurzum, als nächstes Seplachel gehe ich vor den Computer, um mehr Informationen über den Patienten zu sammeln, um so die Geschichte hinter den Namen kennenzulernen. Die Frage, die mich beschäftigt: Warum sind die Personen hinter diesen Namen hier bei uns gelandet? Was ist passiert?
Ich lese: Ein Motorradunfall am vergangenen Samstag in einer nassen Kurve, ein Unfall mit mehreren Brüchen, ein Hautkrebspatient mit schlechter Prognose, eine demente Patientin, die mit schweren Folgen ins Altersheim gestolpert ist, ein junger Patient mit einer schweren Mandelentzündung, die zu Lageschwierigkeiten führt, und eine Patientin nach einer Magenverkleinerung aus Gewichtsgründen. Ich erkenne schon, wie mein Kopf erste Assoziationen macht und versuche, die nötigen Punkte für jeden Patienten zu finden. Daraufhin werfe ich einen Blick auf die Jahrgänge: 1931, 1957, 1971, 1982 und 1998, also Namen von 93, 67, 53, 42 und 25 Jahren. Fünf Personen in verschiedenen Lebensabschnitten. Fünf Menschen mit individuellen Gefühlen und Gedanken, die sich momentan in einer aussergewöhnlichen Situation befinden. Plötzlich auf Hilfe und Unterstützung angewiesen, sich überlegen müssen, wie es nach dem Spitalaufenthalt weitergehen kann und lernen, die Prognose zu akzeptieren. Das Schicksal? Ausserdem sich um die Lieben zu Hause sorgen, Abschied nehmen vom Leben davor und sich tiefen Ängsten zu nähern. Zweifellos manchmal auch die Orientierung verloren zu haben. Nur, durchaus auch einen feinen Hoffnungsschimmer im Inneren zu spüren, Freude nach guten Nachrichten, Dankbarkeit und neben all der Not nicht den Humor zu verlieren.
Nachdem ich die Medikamente vorbereitet und kontrolliert habe, betrete ich das Zimmer. Mit einem “Klick” auf die Tussiwolke schiebe ich die nächtliche Dunkelheit aus dem Zimmer und nach all meinen Gedanken sehe ich nun zum ersten Mal die Person hinter dem Namen. Auf dem Calanda brennt die Sonne, ihr Glanz verspricht einen wunderschönen Tag. “Guten Tag”, und mein Arbeitstag beginnt.
Um die Wünsche des Patienten zu erfüllen, ihn in seinen Bedürfnissen zu unterstützen, reicht ein Applaus nicht aus. Der Mensch wird immer älter und auch immer multimorbider. Um eine gute Pflegequalität zu erhalten, Zeit für die Patienten zu haben, Jugendliche für das schöne Gewerbe in der Pflege zu motivieren und das Personal in der Pflege zu halten, braucht es Veränderungen.
Vielleicht steht auch dein Name eines Tages auf der Tafel, vielleicht morgen, vielleicht nächstes Jahr oder mit Glück auch erst im hohen Alter. Hoffentlich wird an diesem Tag eine Krankenschwester Zeit haben, sich mit deiner Geschichte auseinanderzusetzen.
Die “Zulprins”, so heisst die Rubrik für junge Autorinnen und Autoren, eine Rubrik, die in Zusammenarbeit der GiuRu Jugend Rumantscha mit der FMR Fundazione Medias Rumantschas erscheint. Gemeinsames Ziel von GiuRu und FMR ist es, jungen Autorinnen und Autoren Raum und Stimme zu geben. Die “Holzhölzer” sollen also hier und da Funken schlagen!
* Mehr Informationen zur GiuRu auf www.giuru.ch oder per Mail an juru@giuru.ch.